Ein Schäferstündchen

Neulich war ich in Hamm. Nicht das echte Hamm, sondern das kleine Hamm bei Düsseldorf. Das ist gar nicht weit vom Medienhafen entfernt, und man kann da bequem in der Mittagspause rüberschlendern. Hamm ist sehr dörflich, und damit im Vergleich zum hochgezüchteten Schnöselgehege ein starker Kontrast. Man muss nur die Bahngleise überschreiten und ist in einer anderen Welt.

Wir wollten ursprünglich nur kurz etwas essen, aber dem Medienhafen war das Geld ausgegangen. Die Automaten waren blank, weder die privaten noch die öffentlichen Apparate waren bestückt. Im gesamten Medienhafen war kein Bargeld mehr zu bekommen. Man könnte sagen: Die Geschäfte der Reichen und Mächtigen waren nicht ausreichend mit Realkapital unterfüttert. Man musste sich also an den kleinen Mann wenden, wenn man Geld haben wollte; man musste nach Hamm .

Das Dorf am Ende der Welt

Gesagt, getan. Wir unterschritten die Bahnlinie und waren plötzlich auf dem Dorf. Es roch wie es dort eben riecht. Die Häuser waren verklinkert  und zweistöckig. Irgendwo fuhr ein Trecker vorbei. Auf dem Marktplatz (es gab einen Marktplatz!) stand die Büste eines Bürgermeisters, eine Kirche war anwesend und direkt nebendran eine katholische Pfarr-Bücherei. Ein ruraler Traum von Ruhe und Gelassenheit.

Aber nicht für uns allein. An die herausgestellten Tische des Stadtbäckers hatten sich viele seriös gekleidete Herren gesetzt, die allesamt wirkten, als hätte man eine Chippendale-Kommode in eine schwedische Wohnzimmerlandschaft gestellt. In rustikalem Ambiente verbrachten sie hier ganz unbekümmert ihre Mittagspause. Man spieß, man krempelte die Hemdsärmel hoch, man sagte sich Du.

Ich musste sofort an die römische Hirtenidylle eines Vergil denken: Geschäftstüchtige Edelmänner und Senatoren, die sich beim Lustwandeln im Gewöhnlichen erdeten. Von Nero etwa erzählt man sich, dass er ein ganzes Hirtendorf in seinen Palastgärten nachbauen ließ, um sich dort in ruhiger Stunde als einfacher Schäfer zu fühlen. Andere taten es ihm nach, und genau dort gründet der Begriff des Schäferstündchens.

Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein

In Hamm war es ganz ähnlich. Auch hierin zogen sich die Entscheider und Geschäftsleute zurück, um sich in dörflicher Idylle bei grobem Brot ein solches Stündchen zu gönnen. Ganz abseits der Hafenmedien, der Bilanzen, der Geschäftigkeit und der Befehlsgewalt. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Hamm war Auerbachs Keller, und die Herren in Anzügen allesamt kleine Fäuste, die sich eine Pause gönnten vom mephistophelischen Ringen um die Macht.

Es war wirklich schön, und ich kann es sehr gut nachvollziehen, dass man bei all dem Business Behavior gerne mal für ein Stündchen die Bürolandschaften verlässt und die Seele am Ländlichen labt. Glücklicherweise bin ich kein Behaviorist, deshalb darf ich auch auf andere Weise Mensch sein. Zum Beispiel auf schreibende, mit einem Laptop in Arkadien. Ein Schäferstündchen 2.0.