Hybris

Im Spiegel las ich vorhin einen Artikel. Es ging um einen Mann, William Rodriguez, der auf Bühnen steigt und erzählt, wie er im World Trade Center zahlreiche Menschen gerettet habe. Und weil der Spiegel das so schön zusammenfasst, hier der Wortlaut:

Glaubt man die Geschichte, die Rodriguez vor Zehntausenden Zuhörern auf der ganzen Welt erzählt, mit den Armen weit ausholend, die Bühne im schwarzen Anzug abschreitend, ist William Rodriguez der berühmteste 9/11-Überlebende aller Zeiten. Er ist der Keymaster, der Herr des Masterkeys, des Generalschlüssels des World Trade Centers. Sie nennen ihn den “Key of hope”, den Schlüssel der Hoffnung, meint Rodriguez. Es ist unklar, wen er mit “Sie” meint, aber so wie er es sagt, scheinen es sehr viele Menschen zu sein.

Mit dem Generalschlüssel will er nach der Attacke die Türen im Treppenhaus des Nordturms aufgeschlossen und damit Hunderten zur Flucht verholfen haben. Zwischendurch knackte er zusammen mit einem Cop einen Wasserautomaten, brachte Feuerwehrleuten etwas zu trinken, rief seine Mutter in Puerto Rico aus dem brennenden Gebäude an und sagt ihr: “Ich helfe diesen Leuten. Mach dir keine Sorgen.”

Er selbst, so sagt er, half noch einem Rollstuhlfahrer die Treppe hinunter, rannte dann als letzter Mensch aus dem brennenden Nordturm, bevor er zusammenkrachte, und warf sich unter einen Feuerwehrwagen vor dem Eingang.


Ich kann nicht beurteilen, ob Rodriguez’ Geschichte wahr ist. Der Spiegel selbst lässt die Frage ebenfalls offen, obwohl sich durch den Artikel eine lesenswerte ironische Distanz zieht, die eine gegenteilige Meinung des Autors vermuten lässt. Aber das ist eigentlich egal. Geht man mal davon aus und entkleidet dieses Handeln vom amerikanischen Pathos, wäre es eine große Tat: Ein einzelner Mann behält im Inferno die Nerven und rettet Dutzende von Menschenleben. Eine moderne Heldengeschichte.

Es findet sich allerdings auch ein Element, das Rodriguez sicher nicht gefällt, das aber nichtsdestotrotz die richtige Würze in eine solche Story bringt: Die Hybris. Jenes tragische Element, das nahezu alle Helden gestürzt hat, die ihm anheim gefallen sind.

Hybris übersetzt sich schlicht mit “Anmaßung”, und meint damit die Selbstherrlichkeit, Überheblichkeit und Vermessenheit der eigenen Größe.  Hybris wird dabei vom Stolz unterschieden, der für sich selbst genommen eigentlich vollkommen neutral ist. Wenn wir heute im negativen Sinne von Stolz sprechen, meinen wir meist Hybris: Stolz in der Tat, als anmaßendes, überhebliches, gierig-frevlerisches Handeln im Sinne der Selbstüberhöhung, die oft mit einer Abwertung Anderer einhergeht.

Rodriguez’ Tat ist natürlich eigentlich eine gute Tat. So wie er sie erzählt, gibt es nur Gewinner. Er hat der Menschheit und den Opfern dieser Katastrophe einen großen Dienst erwiesen. Aber durch seine Performance auf öffentlichen Bühnen, bei denen er sich in im Glanze dieser Tat und ihres Ruhmes sonnt, wird sie (im Sinne der griechischen Tragödie) vollkommen entwertet. Sie wird instrumentalisiert, um der eigenen Eitelkeit zu schmeicheln, sie wird vollgepumpt mit Ego-Glutamat, mit Steroiden der eigenen Grandiosität. In Sagen oder sagenhaft erzählten Historien wimmelt es vor solcherart gefallenen Helden: Kreon, Saul oder Ödipus haben erst großes vollbracht, um dann aus großer Höhe tief zu fallen. Ikarus ist in diesem Sinne das wohl prominenteste Beispiel. Weil diese Menschen übermütig geworden waren, haben sie ihre einstmals große Tat verraten. Ein Verrat an Anderen, aber in der griechischen Tragödie oft auch generell am Schicksal: Ein Schicksal, das dem Held die nachgerade unkomplizierte Möglichkeit zur großen Tat bot, das dann aber als Rechtfertigung des Anmaßenden für seine niederen Gelüste (wie Ruhmsucht) missbraucht wird.

Möchte man den Fall des William Rodriguez mit tragödischen Mitteln erzählen, dann besteht sein Verrat darin, dass er den Dienst an den Geretteten in den Dienst seiner eigenen Ruhmsucht gestellt hat. Was für andere geschah, geschieht nun rückwirkend für ihn selbst.

Im Falle der Tragödie wird nun die Nemesis auf den Plan gerufen: Der gerechte Zorn, die Rachegöttin, die dem Gefehlten der rechtmäßigen Strafe für sein Handeln zuführt. Diese Figur kann natürlich auch in Form eines Menschen auftreten, der die Wahrheit ans Licht bringt. Im Film geschieht das meist öffentlichkeitswirksam mit den Worten “Erkennst Du mich noch?”

Bei Rodriguez ist es vielleicht der Polzeibeamte David Lim, der im Spiegelartikel benannt wird. Mit ihm hat der vermeintliche Held zusammengearbeitet, und von ihm wird Rodriguez als “Opportunist” bezeichnet. Aber wer weiß, wer da sonst noch kommen mag. Vielleicht entpuppt sich diese Geschichte ja auch als Lügenbündel?

Ich selbst wäre sehr für ein tragisches Ende zu haben. Jemand, der mit schmierigem Grinsen vor den rauchenden Zwillingstürmen zum Zwecke der Selbstdarstellung posiert, hat eine Nemesis verdient. Eine richtig gute Nemesis.